DAS ERBE EINES GROSSEN EUROPÄERS
Willy Brandt ist der Politiker, wegen dem ich und so viele andere in die SPD eingetreten sind. Seine Ostpolitik, für die er den Friedensnobelpreis erhielt, war die Basis für die Annäherung und Entspannung zwischen Ost und West während des Kalten Krieges, und als Folge dessen auch für den anhaltenden Frieden in Europa.
Für mich unvergessen und untrennbar mit Willy Brandt verbunden bleibt der Kniefall vor dem Mahnmal im Warschauer Ghetto 1970. Dieser historische Moment ist für mich einer der bedeutendsten des 20. Jahrhunderts.
Brandt arbeitete jedoch nicht nur an der Aussöhnung zwischen Ost und West, sondern ebenso engagiert an der Inte¬gration Westeuropas. Er war unmittelbar beteiligt an der ersten großen Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft um Großbritannien, Dänemark und Irland und kämpfte für eine gemeinsame Außenpolitik, weil ihm klar war, dass Europa mit einer Stimme sprechen muss, um sich Gehör zu verschaffen.
Überzeugt von der Idee einer starken politischen Union, setzte er sich für ein direkt gewähltes Parlament mit erweiterten Kompetenzen sowie für die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion ein.
Willy Brandts Leben, seine politische Weitsicht und sein Ausstrahlung faszinieren mich und viele Menschen weltweit seit mehr als 40 Jahren. Eine Kopie der Bronzestatue aus dem Willy-Brandt-Haus in Berlin, mit der wir diesen herausragenden Politiker und Sozialdemokraten ehren, hat in einer kleineren Version auch in meinem Arbeitszimmer in Brüssel einen prominenten Platz. Sie erinnert mich täglich an diesen großen Europäer, der mir immer Vorbild und Inspiration war und der mich gelehrt hat, unbeirrt für die Idee eines vereinten Europas zu kämpfen.
Denn gerade heute geht es darum, den Europaskeptikern nicht das Feld zu überlassen, sondern sie zu stellen und von ihnen eine Antwort auf die Frage zu verlangen, wie denn ihr Europa aussehen würde. Klar ist: Es gibt eine Alternative zu Europa.
Die Alternative zur Europäischen Union wäre Renationalisierung, weniger Zusammenarbeit, weniger Wohlstand, weniger Sicherheit. Die historischen -Errungenschaften der EU werden allzu oft als selbstverständlich hingenommen. Unumkehrbar ist aber weder die europäische Integration noch der durch sie geschaffene Frieden und Wohlstand.
Wir müssen die EU reformieren und verbessern, wenn wir die Idee von Europa verteidigen wollen. Willy Brandt hat uns gelehrt, dass Abschottung keine Lösung ist und dass wir in Europa existenziell voneinander abhängen. Er hat uns gelehrt, dass wir zusammen stärker sind als allein und dass wir deshalb in Europa einen Ausgleich brauchen zwischen Groß und Klein, zwischen stärker und schwächer, zwischen Ost und West. Er hat uns gelehrt, dass nur ein starkes, ein einiges Europa die Herausforderungen der Zukunft meistern kann. Gerade uns Sozialdemokraten ist dieses Erbe Willy Brandts Mahnung und Verpflichtung zugleich.
Sein Mut, seine Vision und seine Begabung, andere Menschen für seine Ideen zu begeistern, faszinieren mich noch heute. Und ich glaube fest daran: Wenn wir mit demselben Engagement und mit derselben Überzeugung für die europäische Einheit eintreten wie Willy Brandt es getan und vorgelebt hat, wird Europa – diese beispiellose historische Erfolgsgeschichte – auch weiterhin erfolgreich sein.
Die Weichen, die Willy Brandt für die Menschen in unserem Land und in ganz Europa gestellt hat, weisen den richtigen Weg. Lasst ihn uns gemeinsam weiter gehen. Denn wenn wir nicht zusammenhalten, dann driften wir in die weltpolitische Bedeutungslosigkeit ab und büßen unsere Handlungsfähigkeit und unsere Demokratie ein.
Martin Schulz (geb. 1955) ist seit 2012 Präsident des Europäischen Parlaments